Bei professionellen Fotos sollte alles stimmen: das Motiv, der Schärfepunkt, die Bildkomposition, der Aufnahmestandort und natürlich die Belichtung. In der Lomografie gelten hingegen völlig andere Regeln. Doch was genau steckt hinter der Kunstform, die ihren Ursprung in Wien nahm und immer noch Fans in aller Welt begeistert?
Wenn jemand den Verantwortlichen des russischen Kameraherstellers „Leningradskoye Optiko Mechanichesckoye Obyedinenie“ (LOMO) damals erzählt hätte, welchen Kultstatus eine ihrer Kameras in der ganzen Welt erreichen würde – man hätte ihn wohl für verrückt erklärt.
1930 entwickelte das Unternehmen aus St. Petersburg, dem damaligen Leningrad, die erste Fotokamera Russlands. Nach einigen weiteren Modellen stellte die Firma im Jahr 1983 die Kleinbildkamera LC-A vor – an und für sich noch keine bemerkenswerte Neuigkeit. Die Kamera war ein Nachbau des japanischen Modells Cosina CX-1 und auch die technischen Eigenschaften wirken nicht nur aus heutiger Sicht wenig spektakulär: 32-mm-WeitWinkelobjektiv, kein Zoom, nicht einmal ein Autofokus und ein manueller, mechanischer Filmtransport sowie ein robustes Gehäuse aus Hartplastik.
Und trotzdem sollte dieses Modell bis zum Jahr 2005 unverändert weiterhin in Russland hergestellt werden und einer neuartigen fotografischen Bewegung ihren Namen geben.
Eine bedeutsame Begegnung
Die Lomografie verdankt ihren Ursprung den Überlieferungen zufolge einem Zufall. Eine Gruppe Wiener Studenten urlaubten im Jahr 1991 in Prag, als ihnen in einem dortigen Fotogeschäft die Lomo LC-A in die Hände fiel. Klobig, komplett aus Plastik, mit merkwürdigem Design, aber doch auch eine Kamera mit einem eigenen, außergewöhnlichen Charme.
Aus einer Laune heraus kauften sie sich jeder ein Modell – eine große Investition war das nicht, denn das Gerät war die Volkskamera des Ostblocks und aus Westsicht ein echtes Schnäppchen. Während ihres Städtetrips fotografierten die Studenten fleißig und kümmerten sich dabei wenig um spröde Regeln wie ruhige, gerade Kamerahaltung oder die Wahl eines vermeintlich ansprechenden Bildmotivs.
Kurzum: Sie knipsten drauflos, was das Zeug hielt! Sie hielten die Kamera in Hüfthöhe, fokussierten nicht und drückten ab, wenn es ihnen in den Sinn kam. Zurück in Wien, ließen sie ihre Filme schließlich entwickeln.
Da die meisten Studenten auch damals schon meist chronisch klamm waren, wählten sie dafür den günstigsten Supermarkt und das kleinstmögliche Format. Und dann die Überraschung: Die Fotos übertrafen all ihre Erwartungen. Die Studenten und die meisten, die die Fotos ebenfalls zu sehen bekamen, waren von dem ungewöhnlichen Ausdruck der Bilder begeistert – die Lomografie war geboren!
Was folgte, lässt sich mit dem Begriff Massenphänomen wohl am treffendsten beschreiben. Die Studenten stellten ihre Bilder auf Lomo-Wänden aus. Dabei werden die Bilder, die mit der LC-A geschossen wurden, auf große Wände Kante an Kante aufgeklebt.
Die Begeisterung der Besucher war so gewaltig, dass immer mehr Interessierte aus dem Urlaub in der benachbarten damaligen Tschechoslowakei ebenfalls eine LC-A mit nach Hause brachten und zu Lomografen wurden. Immer mehr Ausstellungen, Partys und Präsentationen wurden zum Thema Lomografie in der österreichischen Hauptstadt veranstaltet.
Das ging schließlich sogar so weit, dass im Juni 1992 die „Fotoinitiative Lomographische Gesellschaft“ (www.lomography.com) von Matthias Fiegl, Christoph Hofinger und Wolfgang Stranziger in Wien gegründet wurde. Die faszinierenden neuen fotografischen Eindrücke, die merkwürdigen Hüftschüsse, die ungeplanten, experimentellen Schnappschüsse begeisterten aber nicht nur die Österreicher – die Lomografie-Welle schwappte über die ganze Welt.
Die Dauerläuferin: LC-A
Beim russischen Hersteller Lomo wird man die explodierenden Verkaufszahlen des Modells LC-A sicherlich mit großer Verwunderung, vor allem aber Freude, zur Kenntnis genommen haben. Stolze 25 Jahre lang sollte das Modell ohne jegliche technische Veränderung im Werk in St. Petersburg produziert werden.
Als im Jahr 2005 die Produktion eingestellt wurde, war die Trauer bei der Fan-Gemeinde groß. Die Kamera mit der typischen 32-mm-Weitwinkel-Optik, die von Professor Radionov entwickelt wurde, genießt nach wie vor Kultstatus. Ihre Anhänger schwören auf die hochwertige Linse, eine Minitar 1 32 mm/ 2,8, die sehr scharfe und kontrastreiche Bilder erzeugen soll, und das robuste Gehäuse der Kamera.
Auch heute kosten die letzten noch verfügbaren Neugeräte des Modells stolze 200 Euro. Ein Preis, für den man auch schon eine hochwertige digitale Kompaktkamera bekommen könnte – wenn man denn wollte!
Als Nachfolgerin präsentierte Lomo das Modell LC-A+ und spendierte den Lomografen damit drei neue Features: einen Kabelfernauslöseranschluss, die Möglichkeit der Mehrfachbelichtung und eine erweiterte manuelle ISO-Auswahl. Auch in Russland geht man mit den Zeichen der Zeit – das Modell wird inzwischen in China produziert, nur die Optik stammt weiterhin aus St. Petersburg.
Wie hoch die Gewinnspanne des Unternehmens bei der Kamera ist, will man sich besser gar nicht ausrechnen, wenn man bedenkt, dass die LC-A+ satte 250 Euro kostet! So viel Geld muss man aber nicht unbedingt ausgeben, wenn man in die Welt der Lomografie eintauchen will. Inzwischen gibt es dutzende verschiedene Kameras, die für die Lomografie ausgelegt sind. Ob Vierfachlinse, eingebaute Panoramafunktion, Zusatzblitz oder Modell mit Fisheye-Objektiv: Inzwischen gibt es in der Lomografie nichts, was es nicht gibt!
Ab rund 30 Euro ist man bei den günstigsten Kameras dabei. Zudem kann man die Bilder, die unter die Rubrik Lomografie fallen, prinzipiell natürlich auch mit jeder billigen Sucherkamera knipsen, wobei traditionsbewusste Fans auf die besagte 32-mm-Weitwinkeloptik wegen ihrer übertrieben farbintensiven und kontrastreiche Bilder schwören.
Was steckt hinter der Faszination Lomografie?
Doch was genau macht denn nun die Lomografie so spannend? So faszinierend, dass es inzwischen fast überall auf der Welt so genannte Lomografie-Botschaften und -Gesellschaften gibt? Sicherlich das Fehlen von fotografischen Normen, hoch gezüchteten Hi-Tech-Kameras und der Verzicht auf die professionelle Glitzerwelt der Studiofotografie auf der einen und die Standard-Urlaubsschnappschüsse der Hobbyfotografen auf der anderen Seite.
Auch das nachträgliche Trimmen auf heile Welt – die Bearbeitung am PC – ist tabu. Lomografie ist eine Leidenschaft ohne Zugangsbeschränkung, ohne Voraussetzungen. Jeder, der sich dazu entschließt, in die Welt einzutauchen, kann sofort loslegen.
Obwohl: Auch in der Lomografie gibt es Prinzipien – die Lomografische Gesellschaft hat hierfür die zehn goldenen Regeln der Lomografie entwickelt.
Die 10 goldenen Regeln der Lomografie
Nimm deine Kamera überall mit hin.
Fotografiere zu jeder Zeit – Tag und Nacht!
Lomografie ist für Dich nicht lästig – sie ist Teil Deines Lebens.
Fotografiere aus der Hüfte.
Geh mit der Kamera so nah ran an die Objekte, wie Du kannst.
Denk nicht nach.
Sei schnell.
Du musst vorher nicht wissen, was später auf dem Film zu sehen ist.
Nachher ebenfalls nicht!
Scher Dich nicht um irgendwelche Regeln.
Dass die Liste mit einem Augenzwinkern zu verstehen ist, zeigt die letzte Regel: „Scher dich nicht um irgendwelche Regeln. Womit die vorherigen neun irgendwie an Bedeutung verlieren.
Unscharf und überbelichtet – und trotzdem toll!
Das Faszinierende bleibt aber von solchen Detailfragen unberührt. Es sind letztendlich die Bilder, die auch heute noch für Aufsehen sorgen. Lomo-Bilder zeichnen sich durch ungewöhnliche Perspektiven und lange Belichtungszeiten – teilweise bis zu zwei Minuten – aus. Das Ergebnis sind Aufnahmen, die nicht nur chronisch überbelichtet, sondern meist auch verwackelt und mit schrillen Farben daherkommen. Überzeugte Lomografen schwören dabei immer noch auf ihre Original 32-mm-Weitwinkeloptik von Professor Radionov, die besonders kontrastreiche, farbintensive Aufnahmen erzielen soll.
Insbesondere Fotos der LC-A sehen oftmals so aus, als wären sie in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts aufgenommen und hätten im Laufe der Zeit den typischen Rot- und Gelbstich erhalten.
Ein weiteres Merkmal der Lomografie sind natürlich die ungewöhnlichen Perspektiven und Motive. Fotos werden meist aus der Hüfte geschossen, ohne dass ein Blick durch den Sucher riskiert wird. Zudem geht man mit der Kamera oftmals sehr nah an das Motiv heran, was in Kombination mit den langen Belichtungszeiten und der unruhigen Kamerahaltung, die jegliche Bildschärfe unmöglich macht, für psychedelische Ergebnisse sorgt.
Das alles sind in der Lomografie keine Aufnahmefehler, sondern kreative Werkzeuge. Die Lomografie ist längst aus ihren Kinderschuhen herausgewachsen und zu einer etablierten Bewegung geworden.
Florian Moritz, Sprecher der Lomografischen Gesellschaft in Wien, erklärt das Phänomen Lomografie und die Wachstumspläne der nächsten Jahre: „Wir wachsen weltweit. In etlichen Ländern sind wir mit Botschaften und Gesellschaften vertreten, die den Communitys als Anlaufstelle und Diskussionsforum dienen, wo Ausstellungen organisiert und wo oftmals auch die Kameramodelle verkauft werden, die speziell von der Community und der Lomografischen Gesellschaft entwickelt wurden. Ausschlaggebend für die Begeisterung, ist die Liebe zu Themen und die zahllosen spannenden Kunstprojekte.“
Hört man sich unter professionellen Fotografen um, was die zum Thema Lomografie zu sagen haben, erntet man in zahlreichen Fällen nur ein spöttisches Lächeln. Mit einer billigen Kamera auf ein beliebiges Motiv draufzuhalten und einfach abzudrücken, könne schließlich jeder und sei weder originell noch besonders künstlerisch anspruchsvoll.
Letztendlich zählen bei aber dieser Foto-Kunst die Ergebnisse; und die sind in der Lomografie durchaus sehenswert. Wenn in Ihrer Nähe einmal eine Lomo-Wand mit Hunderten oder gar Tausenden Fotos ausgestellt wird, sollten Sie sich die Gelegenheit auf keinen Fall entgehen lassen. Sie werden feststellen, dass gerade die Unvollkommenheit ihren ganz eigenen Reiz versprüht. Und vor allem sollte man bedenken, die Lomografie nicht mit der Fotografie konkurriert!
Hier finden Sie noch weitere ausgewählte Lomo-Kameras im Überblick:
Diese Lomo-Kamera heißt Diana F+. Sie basiert auf einer Kult-Plastikkamera aus den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts.
Diese merkwürdige Kamera trägt den Namen „Action Sampler“ und bietet zwar keinen Autofokus, dafür aber vier Linsen.
Mit der „Fisheye 2“ fotografieren Sie in Bildausschnitt von 170 Grad – im typisch verzerrten Fischaugen-Look.